Le Chemin de la moindre Résistance

Tag 10: Der Widerstand ist dem Widerstand sein Tod


09:27 Uhr
Von Rochefort nach Revogne sind es etwa 22 Kilometer, vorbei an schönen Örtchen mit Mahnmalen an die Opfer der beiden Weltkriege und etlichen „Frietjesbuden“. Ich mache einen kleinen Zwischenstopp am Cabaret-Wandgemälde von Rochefort. Trotz der frühen Uhrzeit am Sonntag morgen, es sind nur wenige Menschen in dem zauberhaften Städtchen auf der Straße, sieht man keine Menschenseele. Dieser am späten Abend geschriebene Satz ergibt erst beim dritten Mal lesen Sinn, dann aber so richtig… Nur ein Mechaniker scheint hinter mir gerade sein Werkzeug aus seinem Transporter zu packen. Er applaudiert plötzlich laut, als ich das Schild vor dem Wandgemälde auf und ab bewege, das eine Theaterbühnensituation zeigt, in der ich mich nun für ihn exklusiv befinde. Ich erschrecke zunächst leicht, ich wähnte mich allein auf der Bühne und ohne Publikum, drehe mich um und schaue in ein amüsiert grinsendes Gesicht voller Lachfalten. Er zeigt beide Daumen nach oben. Wir lachen erfreut. Applaus auf offener Straße habe ich trotz auffallend vieler positiver Reaktionen in Belgien noch nicht erlebt. Ich sollte mich später fragen, welche Reaktion eigentlich interessanter ist, der keine-Miene-verziehende-Griesgram-im-Auto-mit-Anhänger später am Nachmittag oder die durch Schmunzeln, Lachen oder sonstwie offen zur Schau getragene positive Bewertung des Vorbeiziehen eines sonst fest montierten Trägers von Informationen in schriftlicher Form, der sonst zur sachlichen Standortinformation dient. Als ich Rochefort verlasse, laufe ich an prächtigen Villen aus dem vorletzten Jahrhundert vorbei, umgeben jeweils von riesigen Gärten und Parks. An einem entschließe ich mich etwas widerwillig, ein Foto zu machen. Das Schild scheint meinen Widerwillen zu bemerken oder hat selbst etwas dagegen, es fällt nämlich einfach um. Die Straßenschilder sind in Belgien und Frankreich etwas dünnhäutig aus einfachem Blech, damit sie sich gut an die manchmal unebenen Hauswände schmiegen oder anbringen lassen. So verbringe ich inzwischen zum dritten Mal Zeit mit Wieder-gerade-biegen meines Wegweisers. Habe ich mich etwa bisher zu wenig um mein Schild gekümmert. Ich putze es ein wenig mit meiner Krawatte und entferne sorgsam das fest geklemmte Blattwerk. Dann gibt es noch einen Kuss auf den i-Punkt von Résistance und weiter geht’s.
12:41 Uhr
Ich laufe an einem, auf einer Bank die Aussicht über das Tal zwischen Rochefort und Han-sur-Lesse geniessenden Pärchen vorbei, das sich umdreht, als es hinter sich im Augenwinkel zwar eine Bewegung wahrnimmt, allerdings dem Mann mit dem Schild zunächst keine weitere Beachtung schenkt. Zu schön ist die Aussicht am heute wieder sonnigen äh, … Sonntag über den Ardennen. Wenige Schritte weiter bleibt das Schild plötzlich im Geäst einer großen Eiche hängen, die ihr Blattwerk genau zum richtigen Zeitpunkt über mir abgesenkt hat, um das Schild in Empfang zu nehmen. So hängt das Schild genau in einer Astgabel über mir, die eben noch gar nicht da gewesen sein kann. Inzwischen achte ich auf die unmittelbare Umgebung, zu sehr hat das durch allerlei Stürze und Unfälle ziemlich ramponierte Schild die bisherigen zehn Tage der Wanderreise gelitten. Am vierten Tag der Wanderung habe ich für meine aus Krankheitsgründen daheim gebliebene Lebensgefährtin Astrid ein Selfie aufnehmen wollen, als ich mit Schild über eine Böschung gestolpert und in einer Pfütze gelandet bin. Es hatte viel geregnet und die Selbstüberschätzung, neben der triefend nassen Umgebung auch noch Fotos zu machen, wurde prompt bestraft. Der Gefährte Dirk Tillack kommentierte das gewohnt wortgewandt mit: „Das haste Dir wirklich redlich verdient!“ Nicht umsonst musste der ja dann schnell wieder abreisen. Aber zurück zum heutigen Tag 10, da gibt’s genug zu berichten, und es müssen keine ollen Kammellen herhalten. Als ich mich umdrehen muss, um das Schild aus der Astgabel zu heben, fällt mein Blick zwangsläufig auf das Pärchen um die vierzig, die sich inzwischen zu mir umgedreht haben und die seltsame Szene der Schildbefreiung beobachten müssen. Sie hebt ihre belgischen Schultern, ihre belgischen Handflächen zeigen nach oben und die ebenso belgischen Ellenbogen sind zur Seite angewinkelt und fragen in belgischer Geste: „Was soll das Schild hier im Wald?“ Als ich näher komme, wiederholt sie diese Frage in gesprochenem Französisch. Ich bemühe mich, den beiden sympathischen Naturfreunden den Sinn meiner Reise zu vermitteln. Ich schildere zum Einen die bildgewordene Fragestellung, die das widersprüchliche Bild des feinen Herrn im Anzug, der sich offenbar am Weg des geringsten Widerstandes abmüht und erwähne die Ebene der Verwandtschaft zu Arthur Rimbaud als Dichter des Widerstandes der zweiten Hälfte des 19ten Jahrhunderts. Sie verstehen sofort die Verbindung zur heutigen Zeit und reagieren so offen und angeregt auf das Bild, das sich ihnen hier vollkommen unerwartet bietet, das ich tatsächlich von meinem eigenen Projekt ein bisschen gerührt bin. „Was für eine schöne Idee und was für ein sensibler und alles umfassender Umgang mit den merkwürdigen Fragen, auf die wir alle keine Antwort bekommen!“ kommentiert Marie. Als Eric anmerkt, dass dies genau der richtige Umgang mit der derzeitigen gesellschaftspolitischen Situation sei, appelliert er: „Leute, schraubt die Straßenschilder ab, und geht damit um die Welt. Irgendwo gibt es bestimmt einen neuen und vielleicht viel besseren Platz für Euch. Nur Mut!“, spricht mir der sympathische Mann aus der Seele. „Bonne Journée“, tauschen wir noch aus und lächeln uns noch eine Weile winkend hinterher. Sie weisen mir noch den Weg aus dem Wald, in dem ich mich verlaufen habe. Ich muss einen großen Umweg durch eine Talsohle und über einen weiteren Hügel laufen, der mir einiges abverlangt. Ich komme noch an einer Art Zelt eines Aussteigers, der seit drei Jahren im Wald lebt vorbei und meint, er sei nur früher dran gewesen. Dies sei unsere Zukunft. Ich darf ihn nicht fotografieren, allerdings erlaubt er mir, seinen „Hausstand“ abzulichten.
15:12 Uhr
Frauke hat mich inzwischen eingeholt und wir beschliessen im Zentrum von Ave in einem Café, das sie bereits ausgemacht zu haben scheint, eine Pause zu machen, Kaffee zu trinken und Kuchen zu essen. Wir betreten das Grundstück der örtlichen „La Taverne“. Als wir an dem vollbesetzten, sich an den schönen Natursteinbau anschmiegenden Wintergarten vorbei flanieren, schauen alle Restaurantgäste auf bzw. drehen sich interessiert zum Mann mit dem Straßenschild um und versuchen den Schriftzug zu lesen. Ich lehne das Schild so an eine Mauer, das es die Gäste sehen können und nehme mit Frauke draußen im Hinterhof Platz. Irgendwann kommt ein älterer Herr schwerfällig aus dem Restaurant zu uns an den Tisch und berichtet, dass er mich das Schild habe schleppen sehen. Er berichtet, das sämtliche Gespräche im Restaurant abrupt unterbrochen wurden, ob mir klar wäre, was das mit den Menschen mache? Er fühle sich zudem an den Kreuzweg erinnert. Unweit von Ave sei eines der bekanntesten Denkmäler des Widerstandes gegen den ersten und zweiten Weltkrieg. Ich erläutere daraufhin einige Ebenen des Projektes zwischen Gestern, heute und womöglich sogar morgen, erwähne die Städtepartnerschaft von Euskirchen und Charleville-Mezières, was nur ein Aufhänger und ein Rahmen für die Wanderung sei. Ich sei selbstverständlich selbstbestimmt unterwegs. Es gehe darum, den Menschen möglichst unaufdringlich die Gelegenheit zu geben, sich zu fragen, welchen Weg sie im Leben bisher eingeschlagen hätten, um diesen vielleicht zu ändern. „Was für ein interessanter Moment eben im Restaurant!“, wiederholt er sich. Als ich ihm die Route und die Gründe dafür darlege, gibt er an, einige kleine Orte auf meinem Weg durch die Eifel zu kennen, er sei häufiger dort auf Urlaubsreisen mit seiner Frau gewesen. „Und dort sind Sie jetzt lang gewandert?“, wundert er sich über soviel Zufall. Schließlich händige ich ihm eine Projektbeschreibung aus, die er umgehend seiner Frau zeigen will. So geht er zurück ins Restaurant und verspricht, mit seiner Frau den Text zu lesen. Er habe es auf sich genommen, das Gespräch mit uns zu suchen, obwohl er so schlecht auf den Beinen ist, beobachtet Frauke das Geschehen, sie hat den besseren Blick zum Eingang des Restaurants. Als ich eine Viertelstunde später das Restaurant betrete, um meine Rechnung zu begleichen, steht der alte Mann mit Mühe und Tränen in den Augen auf, und applaudiert so laut in meine Richtung, das alle anderen Restaurantbesucher diese Geste der Hochachtung mitbekommen. Er verneigt sich schließlich noch vor mir, seine Frau schließt sich ihm an, ich tue es ihnen gleich und fasse mir ans Herz. Auch mir kommen die Tränen und ich bin überrascht, fast überrumpelt ob der unerwarteten Reaktion des Mannes. Was können doch vermeintlich irritierende und ungewöhnliche Aktivitäten alles bewirken? Sollten Sie, lieber Freund, diese Zeilen irgendwann lesen, verneige ich mich erneut vor ihnen und ihrem Mut, uns Fremden gegenüber ihre Gefühle zu zeigen. Wenn das alle machen würden, gäbe es weniger emotionale Blockaden, an denen so viele Menschen heute leiden. Frauke und ich sind berührt, wir können lange nicht sprechen. Am Ende des Tages erinnern wir uns immer wieder an diesen Moment an diesem Tag, an dem ein gestandener Mann den Mut gehabt hat, sich und seine Verletzlichkeit vor allen zu zeigen…
16:48 Uhr
Auf den letzten Schritten des heutigen Weges fällt eines der beiden Schilder ab, wie um zu sagen, dass der Weg des geringsten Widerstandes hier zu Ende ist oder geht. Was sollte noch kommen auf dieser Reise? Der lange Weg zu diesem alten Mann ist womöglich der Sinn des gesamten Projektes. Vielleicht sollte ich das Projekt hiermit für beendet erklären, um den großen Gefühlen, die diesen Mann übermannt haben und seinem Mut, diese zu zeigen, angemessen wertschätzend zu begegnen. Was kann größer sein als diese Reaktion? Bestimmt nicht das Erreichen unseres geplanten Reisezieles Charleville-Mezières. Wir erreichen unsere Bleibe in der Rue de Revogne 201 in einem kleinen Dorf bei Beauraing und freuen uns über eine dem Projekt angemessene Herberge aus dem frühen 19 Jahrhundert. Was soll noch kommen auf unserer Wanderung durch Zeit und Raum über alle Grenzen hinweg, über die hinweg die Menschen unsere Mission zu verstehen scheinen? Das werden wir morgen sehen, vielleicht…