Le Chemin de la moindre Résistance

Tag 11: Der hat doch den Schuss nicht gehört!


08:52 Uhr
Ich laufe in Revogne los, vorbei am historischen Steintor und einem aus Bruchstein gebauten Altar mit etlichen Madonnen- und Christusfiguren. Als ich mich und das Schild, Entschuldigung, es muss natürlich das Schild und mich lauten, den Hang hinauf schleppe, komme ich an zwei eigenwillig und liebevoll gebauten Häusern vorbei. Vor einem steht ein älterer Herr und zeigt lachend auf das Schild. „Haben Sie die blaue oder die rote Pille geschluckt?“, möchte er unvermittelt wissen. Ich frage achselzuckend zurück, ob ich richtig das verstanden hätte und ob er die Frage für mich vielleicht etwas genauer stellen könne? „Sie haben schon richtig verstanden. Die blaue oder die rote Pille!“, wiederholt er und ergänzt: „Wer mit einem solchen Mantel und einem Schild mit dieser Aufschrift denselbigen Weg hinauf schleppt, der hat auf jeden Fall den Film „Matrix“ gesehen und die rote Pille geschluckt, auch wenn das Schild die falsche Farbe hat. Wollen Sie einen Kaffee?“, lädt mich der ältere Mann an seiner Frau, die inzwischen auch vor dem Haus steht, vorbei in sein Haus ein. Aus dem Kaffee wird ein Wasser und ein Schnaps und aus der Frage nach der roten oder blauen Pille wird ein intensiver Austausch über die aktuelle Realität, in der wir leben. Die getrennten Welten der blaue-Pillen-Schlucker sei inzwischen unvereinbar mit der der rote-Pillen-Schlucker. Die Welten der Lüge und die der Wahrheit seien bereits unvereinbar von einander existent. Es gebe nur noch die Betrachtung und Wahrnehmung der Gegenwelt, um die eigene weiter zu festigen. Dieser Zustand der Parallelwelten würde schon noch eine ganze Weile andauern, beschreibt der ältere Herr den Zustand weise und treffend. Ich ziehe mich in meinen Schilderungen aufs Eintauchen in interessante Lebenswelten in den belgischen Wäldern zurück, berichte von interessanten Begegnungen, die das Schild möglich mache, trinke mein Wasser und erkläre, ich hätte den Film 1999 zwar gesehen, aber inzwischen offenbar alles vergessen. Als ich mich gerade verabschieden will, setzt der ältere Herr zu einem Bericht an über seine Familie, die sich hier in die belgischen Hinterwäldern extra zurück gezogen habe, um den Kriegswirren zu entfliehen. „Welchen?“, frage ich dazwischen. „Allen“, antwortet der ältere Herr, dem französisch-preussischem Krieg im späten 19ten Jahrhundert, den beiden als Weltkriegen bekannten Auseinandersetzungen wie dem aktuell sich anbahnenden. „Und Sie wollen also den Weg des größten Widerstandes gehen und all dem entfliehen?“, fragt er mich prüfend. Ich müsse darauf nicht antworten, fühle mich aber ein wenig unter Druck gesetzt von der Autorität, dem Wissen und der Weisheit, die der Mann ausstrahlt. Er könne mich beruhigen, fährt er, fort die Geschichte der Menschheit sei noch lange nicht zu Ende und schmerzhafte Lektionen gehörten eben dazu und seien notwendiger Bestandteil der Entwicklung. Ich sei ja ohnehin in Bewegung und Stillstand sei Voraussetzung für Probleme, insofern sei ich schon mal im Vorteil. In Belgien gebe es genug Platz, die Menschen seien überwiegend freundlich, die Natur sei in den Ardennen überwältigend. Im Ausland würde man dieses Land überwiegend unterschätzen, was ich bestätigen kann. Ein Funke von Hoffnung macht sich in meinem Organismus breit und versorgt mich mit Kribbeln im Körper und Gänsehaut auf der Haut. Zum zweiten Mal mache ich Anstalten, zu gehen, als mir der weise Mann noch mit auf den Weg gibt, ich solle auf den schwarzen Mantel der Popkultur achten, der sich wie der des Schweigens über die Wahrheit lege. „Ich verstehe nicht ganz!“, gebe ich zurück, wie so Vieles des soeben Wahrgenommenen ruft auch dies ein Gefühl der Überforderung in mir hervor. Er fährt fort, das die Figur des „Neo“ im Film Matrix einen ähnlichen Mantel wie ich trage. Im Film diene der Mantel wie die Gesten der Figur dazu, einen Personenkult zu erzeugen, der von dem eigentlichen Inhalt des Films ablenke. So würde man die im Film transportierten Informationen nicht für Fakten sondern für Fiktion halten. Damit sei der Film nicht mehr Dokumentation, sondern Märchen. Das sei der eigentlich Kniff, auf den wir Menschen hereinfallen würden. Anschließend darf ich endlich mit der Tür aus dem Haus fallen, verabschiede mich für diese Lektion und überreiche als Gegenleistung einen Text über Inhalt und Sinn meines Projektes. Die bis dahin sympathisch schweigende Frau des weisen Mannes behauptet, ihr Mann habe manchmal den Schuss nicht ganz gehört und sei gegenüber Fremden manchmal etwas unsensibel mit sensiblen Informationen. Sie hoffe, er habe mich nicht überfordert. Ich wiegele ab, es werde schon gehen, bin aber vielleicht nicht ganz ehrlich. Beide geben mir noch ein: „Bon Courage und Bonne Journée“ mit auf den Weg. Ich habe etwas wacklige Knie, als ich mein Schild schultere und über die rote und blaue Pille nachsinne.
11:37 Uhr
Mama ruft an. Sie hatte gestern Geburtstag und schildert ausführlich ihre Geburtstagsfeier. Zum Glück sei das Telefon vormittags kaputt gewesen, so dass sie nicht alle Anrufe entgegen nehmen konnte. Sie ist in ihrem hohen Alter munter und strahlt beinah durchs Telefon. Sie erkundigt sich nach den Ereignissen unterwegs, im hinteren Unterholz ist plötzlich Bewegung und ein Hirsch mit mächtigem Geweih springt auf und davon. Ich sollte ihn später immer wieder Röhren hören abwechselnd mit Schüssen. Aber eins nach dem anderen… So sage ich Ihr mein extra für Ihren Geburtstag verfasstes Gedicht auf:

Du Mutter all mein Abenteuer
Auch wenn’s Dir oft nicht ganz geheuer
Meine kompli- und schwierizierte Arbeit ind
Dir manchmal wie mein Weg zu weit sind
Nimmst Du Anteil an mei’m Lebenswegest
Wie nur Du nachm Licht im Dunkel strebest
Ich will endlich dafür sagen: Dank
Für das Du soviel Last im Tank
Immer mich gelassen hast
Von Recklinghausen-Süd nach Belfast
Von Hikkaduwa nach Montreal
Wie Du von Esbeck ins Waldliesborntal
Die Entfernungen sind einerlei
Die Erfahrungen sind die Würze im Brei
Des Lebens

„Das könnte glatt von mir sein?“, reagiert sie auf das Gehörte. „Bist Du jetzt auch noch unter die Dichter gegangen? Du sollst doch den ganzen Tag das Schild tragen. Wie heißt Deiner Begleiterin noch, Frauke? Ist die eigentlich jeden Tag dabei? Hat die nichts anderes zu tun? Bezahlst Du die überhaupt?“, möchte Sie plötzlich ganz viel von mir wissen. Sie scheint im neuen Lebensjahr ganz gut angekommen wie wir im Jagdgebiet von zwischen Honnay und Haut-Fays.
12:34 Uhr
Ich komme an ein Gatter, auf dem Termine für eine in diesem Gebiet stattfindende Jagd eingetragen sind. Obwohl der heutige Tag dort nicht eingetragen ist, höre ich Schüsse im Hintergrund. Man solle das Gatter wieder verschließen, wird einem noch auf einer Tafel erklärt. Vielleicht sollte ich das gerade unterlassen, damit die Tiere eine Fluchtgelegenheit haben? Ich entscheide mich für jein und handle entsprechend. Mir fallen viele Wildschweinspuren auf dem Trampelpfad auf, den ich durch das Jagdgebiet zurücklegen muss. Am Ende sind sogar frische Spuren aus dieser Nacht zu sehen. Irgendwann sollte ich, meinem GPS zufolge, einem Privatweg nach rechts folgen, von dem mich ein gesengter Schlagbaum allerdings abhalten soll. Ich entschließe mich, es trotzdem zu tun. Es geht so steil bergan, das ich zum ersten Mal auf dieser Reise, mein Absicht, bis nach Charleville mit Schild zu laufen, verfluche. Irgendwann hat mich Frauke eingeholt. Zum Glück gehen wir den Rest des Weges zu zweit, was Erleichterung bedeutet bei dem, was noch kommen sollte. Es befinden sich zunehmend Hochsitze in meinem Blickfeld, die den Weg säumen. Schließlich befindet sich etwa alle 100 Meter einer mit einer blauen Markierung. Mein Schild gibt vermutlich für die Jäger, die sich das blau markierte Jagdgebiet teilen, ein gute Zielscheibe ab. Noch immer sind Schüsse im Hintergrund zu hören. Schließlich werden die Hochsitze zu einfachen Stellungen aus mit Laub und Tannenzweigen geschmückten Europaletten und sind in Signalrot markiert. Soll ich mich etwa sicherer fühlen mit der falschen Schildfarbe? Die Schüsse werden lauter. Plötzlich brettert ein großer Pick-up heran und hält auf meiner Höhe. Der Fahrer lässt das Fenster herabsenken und fragt in offensivem Ton, was ein Verkehrsschild hier im Wald zu suchen habe. Es sei Privatgebiet und für den Durchgang nicht geeignet. Ich gebe zurück, es sei ein Durchmarsch und frage zurück, aus welchen Gründen der Weg für den Otto-Normalverbraucher auf seinem Weg von Euskirchen nach Charleville-Meziéres den ungeeignet sei? Angemessen irritiert über das eben Vernommene, fährt er fort, das zwar heute keine Jagd in „seinem Wald“ angesetzt sei, dennoch könne man nie wissen. Manchmal werde auch so geschossen. Wir sollten auf kürzestem Wege aus dem Wald verschwinden und gehen deshalb am Besten immer gerade aus. Er wünscht noch einen guten Weg und zeigt Respekt gegenüber der Unternehmung, zu Fuß so lange und so weit unterwegs zu sein. Der Fahrer brettert durch Pfützen und Matsch davon und fährt Frauke beinah über den Fuß. Frauke ruft: „Der hat doch den Schuss nicht gehört!“ Wir nehmen den Rat des Privatwaldbesitzers ernst und nehmen Beine, Schild und Kamera in die Hand. Die Schießanlagendichte wird immer größer und ähnelt irgendwann einer Schießbude auf einem Jahrmarkt, wo jeder Schuss ein Treffer ist. Wir bemitleiden die Tiere, die aufgrund der perfekten Einzäunung weder fliehen noch den Jägern hier entweichen können. Ist die Jagd eigentlich ein Mittel, um den Mangel an Selbstwert des Mannes mit Gewehr durch den Abschuss von Wildtieren auszugleichen? Und befinden sich die Menschen vielleicht gerade in ähnlicher Situation mit den steigenden Energiepreisen, Lebenshaltungskosten und staatlich verordneten Medikationen wie die Wildtiere in diesem Jagdgebiet? Mir wird schwindlig bei diesem Gedanken, der mir wie ein Kloss im Halse stecken bleibt und die Knie noch wackliger werden lässt. Auch dieses müsste nach den Erfahrungen mit den Kühen tags zuvor auf offener Wiese auf die Menschen selbst zurückfallen und bedeuten, das der Jäger letztlich auf den eigenen Selbstwert schießt und damit diesen nur weiter verringert. Ein Teufelskreis. Frauke und ich, wir drehen uns auch im Kreise des Karmarades und finden keinen Ausweg aus dem Wald der Wildtiere, bis wir endlich einen auf einen Wegweiser nach Haut-Fays und dem Ziel unserer heutigen Etappe Gedinne stoßen. Die rettende Landstraße ist auch nicht mehr weit. Aus dem Jagdgebiet heraus führen in den Boden eingelassene Eisenstangen, in denen sich die Vierbeiner die Beine brechen müssen, sollten sie versuchen, zu entkommen. Am Ende des Tages hat sich die dystopische Atmosphäre der „Matrix“-Filme vollends auf unsere Umgebung übertragen, das sollte sich auch in den beiden Orten nicht mehr ändern, die wir noch zu sehen bekommen. Das gibt’s sogar in Belgien…