Le Chemin de la moindre Résistance

Tag 12: Bevor ich irgendetwas mache, drucke ich erst mal ein Schild


08:52 Uhr
Heute hat sich Astrid unserer kleinen Expedition ins Menschenreich angeschlossen. Sie ist wieder auf den Beinen nach überstandenem Infekt. In Deutschland seien gerade alle krank, überbringt sie als Nachricht an uns, die schon einen gehörigen Abstand zu dem Land gewonnen haben, das in immer merkwürdigere Gefilde schippert und man sich schon lange fragen muss, wer da eigentlich am Steuer und der Kapitän dieser haarsträubenden Irrfahrt ist.
09:37 Uhr
Heute geht’s etwas später los als sonst. Dem Schild geht’s nicht so gut. Es hängt etwas schief an der Stange und muss neu ausgerichtet werden. So widme mich mit Hingabe der Verfassung des Hauptdarstellers des Projektes, scheine mich allerdings seinem Zustand anzuschließen, denn meine linke Hüfte schmerzt und ich hinke etwas. Es scheint offenbar Parallelen zwischen den Befindlichkeiten des Schildes und mir zu geben. So stellt Frauke fest, das ich mich ohne Schild schon gar nicht mehr bewegen will. Bevor mir etwas passiert oder zustößt auf meiner langen Reise, geschieht vorher dem Schild immer etwas ähnliches. Das Schild bleibt in einer Astgabel hängen, ich nehme etwas später die falsche Abbiegung an einer Weggabelung. Das Schild schlägt an einem Baum an, was zwar ganz normal ist, wenn ich das Schild über der Schulter trage. Ich kann nicht sehen, was hinter mir passiert. Mir fällt prompt eine Eichel auf den Kopf. Auf dem Schild landet eine Hummel, wenig später springt ein Hirsch aus dem Gebüsch in meine Richtung. Als wollte mich mein Schild schon auf das Bevorstehende vorbereiten und schon vorher Kontakt zu mir aufnehmen. So fühle ich gut behütet durch mein Schutzschild. Wie gut, wenn man Freunde hat. Bevor ich überhaupt noch irgendetwas mache, drucke ich ab jetzt erst mal ein Schild. Das klingt vielleicht ein bisschen deutsch, aber hey. Beim gestrigen Marsch durch den Wald, in dem die Räuber sind, ist das Schild hier, da und dort, also drei mal, angeeckt und hat eine Schraube locker. Bei genauerer Betrachtung aller Arretierungen sind sogar drei der vier Schrauben nicht mehr fest und müssen nachgezogen werden. An dieser Stelle gibt’s natürlich keine Parallelen zwischen dem Schild und dem dazu gehörigen Träger. Das wäre auch ein bisschen zu einfach, Schildschraube locker, Schildträger auch. Aber jetzt zu etwas humorvolleren Themen. Wir nähern uns Frankreich. Die Straßennamenschilder werden etwas dunkler im Blau, das ultramarin geht ins Indigo über. Überhaupt scheint man der Straßennamenbeschriftung im französischsprachigen Raum weniger Bedeutung bei zu messen als im deutschsprachigen. Sie hängen in unterschiedlichen Größen, Schriften und Blautönen in unterschiedlichen Höhen, zumeist an Mauerwänden, wenn keine Mauer da ist, an eckigen Pfosten. In einem Teil von Belgien gab es sogar einige grüne Straßennamenschilder. Das mir von meinem Bauchgefühl verordnete ultramarinblau mit der gewählten Schrift bildet insgesamt die Schnittmenge der Unterschiedlichkeiten aller belgischen und französischen Straßennamenschilder ab. Das Projekt scheint deswegen wohl ganz gut zu funktionieren, was die Reaktionen der Menschen hier deutlich belegen. Wir nähern uns dem Ende unserer Reise, so kommt es wohl heute zu der Analyse des Straßennamenschildwanderprojektes. Weil mir nix Besseres einzufallen scheint, gehe ich jetzt mal zur Beschreibung des heutigen Weges über. Mal sehen, ob das spannender wird: Nachdem Berg und Tal der Eifel zu Beginn der Wanderung uns einiges abverlangt haben ging es sanft in das Hohe Venn über, danach mussten die Höhen und Tiefen der hinteren Ardennen durchquert werden, was eine ähnliche Anstrengung wie in der Eifel bedeutete. Ich wähnte mich schon auf der Zielgeraden und werde heute ein bisschen ausgebremst, da offenbar die extremsten Steigungen erst noch vor uns liegen, bzw. gerade unter uns. Ich habe mir im Laufe der Reise angewöhnt, gar nicht mehr auf die Höhenprofile zu achten, umso größer ist die Überraschung, wie sich der vor einem liegende Tag entfaltet. Heute ist die Überraschung leider mit größter Anstrengung verbunden bei warmen 20 Grad, was meinen Mantel überflüssig macht. Aber wohin mit dem, wenn nicht am Körper tragen. Die schlimmsten Erlebnisse mit meinem Kostüm hatte ich bei Regen und warmen Temperaturen. Der Mantel wurde durch die Nässe immer schwerer, die Feuchtigkeit vom Schwitzen führte im Mantelinneren zum selben Ergebnis. Inzwischen kommt die leichte Geruchsbelästigung hinzu. Das führt zu meist kurzen Konversationen auf der Straße.
12:19 Uhr
Vor uns reckt uns ein Baum seine fünf Finger in die Höhe und möchte begrüßt werden. So lege ich meine Hand in seine. Das Moos auf der Haut des Baumes fühlt sich weich und flauschig an, ich habe beinah das Gefühl, das eine wärmende Kraft von dem Baum über das Moos in mich übergeht. Der Baum stört sich auch nicht am Geruchsbild des Wanderers. Als wir den Wald verlassen und in ein Industriegebiet einbiegen müssen, geht bei strahlendem Sonnenschein das Schild die Straße der Hoffnung entlang. Ich muss an die gestrige Begegnung mit dem alten weisen Mann denken.


15:34 Uhr
Wir kommen in Bohan an, sind aber so früh, das wir schnell entscheiden, noch einen Ort weiter zu gehen. Eine Wandergruppe französischer Rentner kommt um die Ecke. Einer der beiden Männer fragt, ob das nicht untersagt sei, mit einem Straßenschild durch die Gegend zu laufen? Ich an vore ech schaereno oas wo chnerkomme alles crauorse vo gas cenn sei. mocnie man wissen. .ich Deutschland, gebe ich zu verstenen, was man amustert nicht so recht glauben will. Haben da nicht schon wieder alle die Masken auf? Und jetzt schrauben die auch noch Straßenschilder ab!", amüsieren sich die Leute, die sich als Belgier zu erkennen geben, die an der Deutschen Grenze wohnen. In Belgien traue man den Verantwortlichen längst nicht mehr, die diesen Spuk veranstalten. Ich behaupte, ich sei nur mit Schild-durchs-Land-tragen- beschäftigt und ansonsten wenig im Bilde über Zustände andernorts. Sie scheinen den Widerspruch des sich ihnen bietenden Bildes zu verstehen, lächeln und wünschen noch einen guten Weg nach Frankreich. Allerdings geben sie mir noch eine Warnung mit auf den Weg: „Der Weg ist sehr steil dorthin." Sie sollten recht behalten ...
16:28 Uhr
Wir müssen doch tatsächlich unsere Entscheidung bereuen, noch einen Ort weiter zu gehen. zu steil geht es den Berghang hinauf. Über vierzig Minuten geht es schon den achtundzwanzig Grad steilen Hang hinauf, wie ein Schild weiter unten behauptet. Frauke bleibt plötzlich stehen und stellt fest: „Wie schön dieser Wald doch ist!“ Ich bin nur mit mühsamer Schildschlepperei beschäftig und kann dem Wald gerade nichts als Quälerei abgewinnen. „Wo denn?“, frage ich entsprechend angestrengt zurück. „Na schau Dich doch mal um“, fordert Schöngeist Astrid. „Das Schild ist schwer, der Mantel auch, ich schwitze nur noch bei jedem Schritt!“, beschreibe ich meinen misslichen Zustand. „Du muss eben nur an den nächsten Schritt achten, den Du gerade machen kannst und Dich nur darauf konzentrieren. Dann entdeckst Du schon die sich vor Deinen Füßen ausbreitende Schönheit des Herbstwaldes, durch den Du Dich gerade bewegst.“, behauptet sie. „Ich will’s versuchen!“, gebe ich den beiden zu guten Freundinnen recht. Wenige Minuten später schallt es aus Astrid heraus: „Boah, das ist ja der Hammer. Was für eine Aussicht!“. Als Frauke und ich oben ankommen eröffnet sich ein großartiger Blick über das schöne Bohan. „Das hat sich ja mal gelohnt“, meint Frauke. „Wenn Du es schaffst, Dich auf den nächsten Schritt zu konzentrieren, und das Beste daraus zu machen, wirst Du mit so einer solchen Übersicht belohnt“, nimmt Astrid die Schlaumeierei von eben wieder auf, um sie auf einzigartige Weise auf alles, jeden und jede Lebenssituation zu übertragen. Im Müsli scheint wohl heute ein Löffel Weisheit gewesen zu sein. Wie schön, das Du die letzten Tage teilhaben kannst und wieder gesund bist, Astrid.