Le Chemin de la moindre Résistance

Tag 5: Mein lieber Mann


08:04 Uhr
Wir brechen früh auf, müssen über Malmedy nach Stavelot um vor der Dunkelheit Trois Ponts zu erreichen.
Das neue Schild ist leichter, dafür sind die an die landesüblichen Straßennamenschilder angepasste Form und Größe für die Leute schwerer zu lesen, wenn ich es, wie das „deutsche Schild in Deutschland", über der Schulter trage. Im Laufe des gestrigen Tages wurde ich unweit der Grenze Zeuge eines Kirchenrituals, bei der ein Mann in Brokatrobe ein Christuskreuz vor sich hertrug.
Die Kopie dieser Haltung des Zeremonienmeisters, mit der ich seither durch Belgien laufe, lässt die Passanten, Rad- und Autofahrer wie das Fensterpublikum eher aufmerksam werden. Ich fühle nach einer Weile des Ausprobieren eine Art Übereinstimmung von der Pose mit dem Schild, seiner Größe und Farbigkeit, wie an den Schriftzug und seinen vielschichtigen Inhalt.
Auch wenn die „belgische Pose" etwas zu anstrengend für die Arme zu sein scheint. um sie den gesamten Tag durch zu halten. sollte ich es trotzdem versuchen. Als ich das Schild absetzen will, entspannt sich die Armmuskulatur. „Mein lieber Mann", entweicht es meinen Lippen. um der Erlosung von der Dauerbelastung Ausdruck zu verleihen.
10:48 Uhr
Auf der Suche nach einem Frühstückscafe im zauberhaften Städtchen Malmedy läuft uns plötzlich ein Mann leicht aufgeregt hinter.
„Warum macht Ihr das? Worum geht's?", fordert er vehement eine Antwort auf das soeben Wahrgenommene. Ich versuche eine gewohnt indirekte und nicht zu aufdringliche Erklärung, die allerdings noch etwas holprig klingt aufgrund der mit der neuen Pose verbundenen Anstrengung.
An die muss sich die Muskulatur offenbar erst noch gewöhnen. „Ich frage Sie, welchen Weg Sie im Leben gehen?", höre ich mich sagen. „Na, das ist ja mal eine Frage. Mein lieber Mann. Wie jetzt? Was soll das heißen? Sie müssen doch wissen, warum Sie das hier machen?", behauptet der leicht belgisch wirkende Mann.
„Ich schenke Ihnen einen Moment, in dem Sie sich fragen lassen können, welchen Weg Sie im Leben bisher gegangen sind?", nehme ich einen neuen etwas ausführlicheren Anlauf. „Sie sind von der Kirche oder für wen machen Sie das?", fragt der immer belgischer wirkendere Mann. „Ich mache das für Sie!", gebe ich dem etwas irritiert aber sympathisch dreinblickenden Mann zu verstehen. Ich sei nur Ich, das müsse reichen, gebe ich weiter zu verstehen. Niemand sonst beauftrage mich mit solch bedeutsamen Tätigkeiten.
„Aber sagen Sie, wo wir schon gerade hier beisammen stehen, ich habe auch eine Frage an Sie, kennen Sie ein hübsches Frühstückskaffee in der Nähe? Wir sind ein bisschen hungrig und sind auf der Durchreise nach Charleville-Mezieres, bräuchten aber eine Pause.", frage ich ihn meinerseits. „Ein Café, um diese Zeit?", fragt er zurück.
Er überlegt einen Augenblick und bietet schließlich an, uns zum Kaffee zu begleiten, es sei unweit unseres Treffpunktes, allerdings um ein paar Ecken. Er würde es uns aber gern zeigen. Dort angekommen, verabschiedet sich der beinah komplett belgisch wirkende Mann höflich von uns und wünscht einen guten Appetit. Als ich von der Toilette im Kellergewölbe des ganz ansehnlichen Bistros zurück komme, sitzt der inzwischen vollkommen belgische Mann mit am Tisch.
Es ließe ihm keine Ruhe, er habe noch ein paar Dinge mit uns zu besprechen. Das sollte kurzweilige zwei Stunden dauern, das weiß ich nur zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Hätte ich es gewusst, hätte ich wohl nicht das Erreichen unseres Tagesetappenzieles „Trois Ponts" gefährdet. Aber neben den Inhalten liegt der Sinn dieser Reise schlieblich im permanenten Annehmen außergewohnlicher treignisse, ungewöhnlicher Situationen und bis dahin unbekannter Menschen. So bestellen wir Kaffee, ein Frühstück für alle und plaudern über die manchmal nur schwer verdaulichen Phänomene unserer Zeit und die Unterschiede zwischen den beiden Nachbarländern.
Der Belgier behauptet nach weiteren erklärungsversuchen für die Mission mit einem Straßenschild, das man es sich ja auch leisten können müsse, so etwas zu tun. Man müsse also genug Geld auf dem Konto haben und sonst auch einigermaßen sorgenfrei sein. Ich gebe zu bedenken, dass das leider auf mich nicht zutreffe. Ich habe weder Geld auf dem Konto und gehe außerdem für meinen Sohn den Weg des geringsten Widerstandes, ich wolle mich nämlich nicht irgendwann fragen lassen, warum ich nichts getan hätte in dieser Zeit, in der womöglich noch etwas getan werden könne. Das sei ein guter Grund, wird Mario zusehens unbelgischer, entpuppt sich mehr und mehr als Deutscher, später sogar als Ostdeutscher. In Belgien seien die sogenannten C.-Maßnahmen gar nicht so streng gewesen. Bereits seit März trage hier kaum noch jemand das „Sklavensymbol". Wir haben tatsachlich auf der Straße niemanden mit einer Maske gesehen, berichten unsererseits vom pflichtbewussten Verhalten der deutschen Bevölkerung, wo in Supermärkten freiwillig Maske getragen werde und diese in ottentlichen Verkehrsmitteln angeblich getragen werden müsse.
Mario sei nach Belgien geflohen" und treue sich über die moderatere Auslegung hier im Lande, wisse aber, dass im Großen und Ganzen die Belgier der Magie der Medien und der verantwortlichen Zauberlehrlinge im Vordergrund der Zeremonienmeister im Hintergrund vertallen seien, wie er sich ausdrückt.
Er spiele an seiner Schule den Mathematiklehrer, sei der einzige gewesen, der aut die Frage seines Rektors, was man denn an der Schule verbessern konne, aufgefallen mit dem Vorschlag, man könne doch in der Schule endlich mal wieder etwas für die Kinder tun und nicht für die Lehrer, oder sogar politische Vorstellungen irgendwelcher Hintermänner. Daraufhin habe der Rektor versucht, ihn vorzeitig los zu werden, habe schließlich seinen Vertrag einfach nicht mehr verlängert, nun sei er glücklich außerhalb eines vollkommen verrotteten Bildungs- oder besser Gesellschaftssystems zu sein.
Er würde dennoch lieber Belgier sein. Es sein zwar kein sehr schönes Land, aber ein sehr interessantes. Der Norden arbeite für den Suden. Dieser sei arm, der Norden wisse um seine Unterstützungsleistung und wurde dieser trotzdem gern nachkommen. Und das in einem Land, das sich aus drei Stämmen zusammensetze, den Wallonen, den Deutschen und den Niederländern.
Das sei einfach beispielhaft für alle Menschen und Völker auf dieser Welt.
Wir bedanken uns für seine angenehme Gesellschaft und schweigen lange nach seinen erhellenden Ausführungen auf unserem langen Weg nach Trois Ponts.
Viel mehr ist nicht zu sagen, außer „Auf Wiedersehen, LaMara", es war schön, das Du zwei Tage auf Schritt und Tritt bei uns warst. Wir verbringen den Rest des Tages auf dem gut zu erwandernden Fahrradweg, der am Ortsrand von Stavelot vorbei, am Ende nochmal durch den immer farbentroher werdenden Herbstwald führt. Unterwegs treffen wir auf viele gut gelaunte Belgier, die allesamt amüsiert bis erheitert auf den Mann mit dem Straßenschild reagieren.
Das haben wir so in Deutschland nicht erlebt. Also, montiert eure Straßenschilder ab, packt sie auf die Schulter und ab nach Belgien.
Hier wird noch gelacht,
als wir abends Trois Ponts erreichen, schmerzen die Füsse, Die Blasenpflaster sind auch nicht zu finden, sind wahrscheinlich schon aufgebraucht.
Die belgische gute Laune lässt uns dennoch nicht mehr los.
„Mein lieber Mann!", meint Frauke.