09:11 Uhr
Ich frage in der Touristeninfo von Stavelot nach der Möglichkeit, in Jevigné eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden. Die sympathische Frau braucht eine Weile, um sich vom Anblick des Mannes mit Straßennamenschild zu erholen. Als es soweit ist, erklärt sie, das es schwer werden wird, hinter Stavelot überhaupt noch Unterkünfte zu finden. Außerdem sei das Reisen schwierig, da es außer Schulbussen hier keine Fortbewegungsmöglichkeiten gibt. Und wir seien ja keine Schulkinder mehr, obwohl … Sie fängt erneut an zu schmunzeln. Weder Taxen noch Bahn, alle Menschen bewegen sich hier mit ihrem Auto fort. Ich frage, ob sie ein Auto habe, versteht aber die indirekte Frage falsch und bejaht. Als ich deutlicher werde, behauptet sie, sie benötige ihr Auto heute noch, um nach Hause zu gelangen. Ich erkläre, das dies kein Problem sei, ich sei ohnehin gezwungen, zu Fuß zu reisen. „Das Schild, Sie wissen schon“, gebe ich als Begründung an. Als sie genauer nach meinen Beweggründen fragt, erkläre ich meine Verbundenheit im Geiste zu Arthur Rimbaud und dessen zivilem Ungehorsam, der in diesen Zeiten überlebenswichtig geworden sei und dessen Geburtsstadt ich zu erwandern gedenke.Sie behauptet, dass es noch ganz andere berühmte französischsprachige Dichter und Poeten gebe, denen man nicht durchs Niemandsland nachlaufen müsse. Man habe hier in Stavelot ein Apollinaire-Museum, da müsse ich nur um die Ecke gehen oder am Besten gleich hier bleiben. Auch Apollinaire habe es schwer gehabt zu Lebzeiten, seine sprachliche Sensibilität, sein feiner Sinn für Ironie und Schwarzen Humor, die pralle Lebensfülle und moralische Skrupellosigkeit vieler seiner Protagonisten, die unindoktrinierte Offenheit in allen moralischen und ästhetischen Fragen seien ebenso einzigartig wie die Qualitäten von Rimbaud und seiner symbolistischen Lyrik als Vorläufer des Surrealismus. Wir finden zurück aus den Höhen der ausführlichen Fachdiskurse auf die Erde als ich erkläre, ich müsse zum Geburtstag Rimbauds vor dessen Geburtshaus stehen, da die Geburtsstadt Rimbauds, Charleville-Mezières, die Partnerstadt meines derzeitigen Wohnortes Euskirchen in Deutschland sei und ich eine Verschränkung von bildender Kunst und Literatur anstrebe. Daran könne man sich aber auch verheben, mahnt und entlässt mich die charmante, gebildete und mit Feinsinn ausgestattete Dame aus dem Gespräch in der Touristeninfo von Stavelot. Sie gibt mir trotzdem den Rat mit auf den Weg, einfach hier zu bleiben, das Schild würde auch in Verbindung mit Apollinaire Sinn machen. Wann habe der Geburtstag frage ich noch? „Am 26. August“, findet die Dame heraus. „Dann sind wir wohl zu spät dran!“, verabschiede ich mich.
11:28 Uhr
Auf dem Weg durch die wundersamen Wälder Walloniens, die von Tag zu Tag tiefer in goldgelbe und morgenrötliche Töne getaucht sind, kommt Frauke plötzlich auf die Idee, das auf einer nicht leicht zu erklimmenden Anhöhe eine prima Aussicht für den Mann mit dem Schild über das uns umgebende Tal wie eine ebensolche Übersicht über die gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit bestünde, die ja angeblich allesamt durch die Wanderung gelöst werden wollen. Als ich den steilen Berghang hinauf eile und gerade oben angekommen bin, behauptet Frauke plötzlich, das der ebenso hohe, daneben liegende und noch steiler aufragende Berg doch die bessere Aussicht böte und das bessere Fotomotiv darstelle. Als ich mich leicht genervt aber dennoch wieder abmühe und mich umdrehe, fotografiert Frauke eifrig Fliegenpilze. Ich bin schon jetzt schon schweißgebadet, klettere aber trotzdem weiter hinauf, schließlich will der Mann mit Schild in der Natur ja abgelichtet werden, damit in Zukunft mehr Männer mit Schildern in der Natur zu finden sind. Außerdem möchte ich meine so sehr geschätzte Begleiterin, die auf dem Weg bis hierher beinah jeden Fliegenpilz porträtiert hat, nicht enttäuschen. Oben angekommen, kümmert sich Frauke allerdings nicht um die Aufnahmen von einem Mann mit Schild in der Natur, sondern um die Fliegenpilzkolonie zu ihren Füßen. Als ich wieder unten bin, behauptet Frauke, ich sei wie eine Zwölfe die Abhänge hinauf, nicht nur schweißgebadet, auch völlig entkräftet, muss ich ungefähr elf mal nachfragen, bevor sich der mir bis dahin unbekannte Wortwitz den Weg in meinen Verstand bahnen kann. Ob ihr das der Fliegenpilz gesagt habe, den sie gerade fotografiert habe, will ich noch wissen? Dann wird mir schwindlig. Zum Glück gibt es ein paar Stühle, die weiß der Himmel wer für uns bereit gestellt hat. Nur wer ist der Dritte, der auf dem dritten Stuhl Platz nehmen soll? Als ich mich umsehe, entdecke ich eine Hütte im Hintergrund hinter einem unwegsamen Feld voller hoher Farne. Der Fliegenpilz, den Frauke gerade im Morast kniend fotografiert, behauptet, ich solle da mal nachsehen, es gebe in der Hütte bequemere Sitzmöglichkeiten. Als die Farne auch noch anfangen, die Konversation mit mir zu suchen, mache ich mich lieber auf durch das Dickicht, um die nicht verschlossene Tür der Bretterbude zu öffnen. Mein Blick fällt auf viele Stühle, die an den Wänden verteilt stehen, in der Mitte befindet sich ein Holzofen. Ich setze mich vor Erschöpfung auf den bequemsten Stuhl und schlafe ein.
Als ich wieder aufwache in diesem seltsamen Verschlag irgendwo tief im Wald an einem kleinen Bach und nach draussen trete, kümmert sich Frauke immer noch liebevoll um jeden Fliegenpilz.
„Ach, da biste ja wieder, können wir jetzt endlich weiter?“ fragt Frauke charmant direkt. Ob sie mit „Wir“ sich und den Fliegenpilz meine, vor dem sie gerade hocke, frage ich zurück? So ziehen „wir“ weiter Richtung Jevigné in der Hoffnung, dort eine Bleibe für die Nacht zu finden, obwohl es keine gibt. Bis dorthin wird wie selbstverständlich weiterhin auf jeden Fliegenpilz scharf gestellt. Auf Nachfrage, ob das so sein müsse, wird behauptet, die Fotos seien für LaMara, die interessiere sich ja für Fliegenpilzmakrofotografie. „Fliegenpilzmakrowas?“ Versuche ich eine Wiederholung des Wortes, breche mir aber beinah die Zunge dabei, die dabei einem pelzigen Belag entwickelt, der meine gesamte Mundhöhle austrocknet. So gebe ich mich der Suche nach Wasser hin, statt dem Versuch nachzugehen, die klaffende Bildungslücke zu schließen.
14:21 Uhr
An einem deutschen Laubbaum mit Migrationshintergrund machen wir Rast. Ich umarme die Eiche, die es über die Grenze nach Belgien geschafft hat, genau wie ich. Tief versunken in eine Meditation über die Frage, was der deutsche Wald in Belgien macht?, sehe ich den Lebensbaum aller auf der Erde lebenden Formen. Das Blattwerk des Baumes sind die unterschiedlichen Lebewesen, die über die Äste, die zum Stamm führen alle miteinander verbunden sind. Die Eichen und die Menschen leuchten auf, befinden sich auf einer Höhe und haben eine besondere Verbindung zu einander. Die Eiche gebe Beharrlichkeit, Standhaftigkeit und Stabilität und trotze jedem Versuch des Angriffs auf diese Attribute. Den Menschen solle das ein Beispiel geben. Ich höre plötzlich lautes Gelächter und die Frage nach dem Grund für den Aufzug im Anzug mit Krawatte und Schild mit einer merkwürdigen Aufschrift, ich muss wohl schnell zurück ins Tagesbewusstsein und erkenne eine ältere zierliche Dame mit kleinem Hund. Als ich erkläre, ich wolle damit meine Begleiterin davon abhalten, jeden Fliegenpilz in der Umgebung zu fotografieren, lacht sie abermals, fragt aber, ob ich nicht den gesamten Weg zu Fuß von meiner Haustür zum Geburtsort von Arthur Rimbaud, Charleville-Mezières, zu Fuß zurücklegen wolle, um an dessen Geburtstag vor seinem Geburtshaus zu stehen? Hat sich das hier herumgesprochen oder bin ich verrückt geworden, frage ich mich? Als die Dame mit Hund erklärt, sie sei eine große Freundin der Fliegenpilzmakrofotografie, komme ich mir langsam vor wie in einer Inszenierung. Ob ich denn über meine Reise ein Buch schreiben wolle, fragt sie respektvoll und erfreut? Ich solle Ihr doch bitte eines zusenden, sollte es dazu kommen.
Ein älterer Mann mit Hund fragt später lächelnd nach einer Erklärung für den Schriftzug auf dem Schild und überhaupt nach der ganzen Aufmachung. Ich erkläre meine Absicht, die Strecke bis hinter die Grenze nach Charleville-Mezières zu laufen, um zum Geburtstag von Rimbaud vor seinem Geburtshaus zu stehen, als er klug die Verknüpfung von Performance und Literatur erkennt und noch eine guten Weg wünscht. Ich wundere mich beinah über soviel Verständnis und Heiterkeit in der belgischen Provinz.
17:47 Uhr
Wir kommen an einem Hersteller für Käse und Wein vorbei, der uns vorschlägt, uns mit nach Weismes zu nehmen. Dort könne man eine Gelegenheit für eine Übernachtung finden. Es bedeute zwar ein paar Schritte in die falsche Richtung zu gehen, aber hier würden wir niemals eine Bleibe finden. So nehmen wir das Angebot an und liegen abends auf dem Sofa, Plötzlich klingelt mein Telefon. Der Gefährte Dirk Tillack kommt und sei auf der Suche nach uns, ich solle die Adresse übermitteln, er sei dann bestimmt gleich da. Als der vor der Tür steht, weiß ich nicht mehr, was ich sagen soll, außer: „Zu spät, der dritte Stuhl steht im Wald“.