Le Chemin de la moindre Résistance

Tag 7: Links ist das neue geradeaus oder die Erotik der Pilze


08:37 Uhr Wir brechen auf, haben heute eine Etappe von 18 Kilometern vor uns und wollen von Jevigné nach Clerhé wandern. Es geht auf und ab durch die Ardennen durch den immer bunter werdenden Wald. Der Gefährte Dirk Tillack ist heute mit Frauke und mir unterwegs und behauptet, das Wandern mit Arnd in den Ardennen das Größte sei. Wer ist Arnd, fragen wir uns heimlich, keiner traut sich allerdings, die Frage laut auszusprechen. Vielleicht kommt noch eine Erklärung hinterher? - Wir warten vergebens, stattdessen scheint es dem Gefährten um ein Loswerden von aufgesparten Statements zu gehen, die jetzt endlich ausgesprochen, angebracht und damit los geworden werden können. Als hätte sich im Inneren etwas angestaut, was nur in unserer Gesellschaft seinen Platz im Außen haben könne. Hier eine wohlsortierte Auswahl von zusammenhanglosen Statements, die aus heute wolkenverhangenem heiterem Himmel aus dem Munde des Gefährten auf Frauke und mich herab prasseln wie der spätere Regen im Wald der Wallonie:

Das Wetter der Wallonie ist wie der Regen im Schnee
Das Rumgeknie vor dem Fliegenpilz ist dem Fliegenpilz sein Bild
Den Pilz hast Du Dir selber eingebrockt, jetzt musst Du ihn auch aufessen
Links ist das neue geradeaus
Rechts ab geht’s nach Deutschland
Schon wieder ein Satz, der mir ein Leben lang nachhängt



13:18 Uhr
Wir erreichen nach einem zickzack-Parcours durch die feuchte Wallonie endlich Manhay. Manhay hat etwas von der einzigen Siedlung in der weiten wüstenhaften Steppe von Texas nach einem langen Ritt durch karge menschenleere Trockenheit im amerikanischen 18ten Jahrhundert. Nur ist es in der Wallonie genau umgekehrt, es ist alles bewaldet und feucht, man trifft stundenlang keine Menschenseele, plötzlich erreicht man eine Kreuzung, an der ein LKW nach dem anderen über den Asphalt und an uns vorbei brettert, um Staub aufzuwirbeln, obwohl eigentlich keiner da sein kein, weil es viel zu feucht ist. Trotzdem staubt es seltsamerweise überall hier an dieser gestressten Kreuzung. Es gibt an der Kreuzung einen Saloon, dort stehen Männer mit halb bedeckten Hintern am Tresen und müssen sich das Leben durch Bier erst eintrinken. Eine Frau mittleren Alters verspielt am wild blinkenden Spielautomaten ihre letzten Ersparnisse, und hält dabei den Automaten im Arm als wäre es ihr Lebensgefährte. Nach unserer angemessen kurzen Rast an der wallonischen Wild West-Kreuzung treffen wir später im Wald auf eine älteres Ehepaar, das in der Gegend eine Woche Urlaub macht. Er ist gerührt vom Aufopferungsverhalten einer halben Hand voll Deutscher, die sich den Pfad durch die Wälder der Ardennen ohne Machete schlägt, vorbei an ehemaligen Schlachtfeldern, auf denen schon die Preussen gegen die Franzosen kämpfen, und beide Weltkriege dieser Region Gemetzel um Gemetzel bescherten. Wir seien doch bestimmt in der Lage, die hier noch auf der Erde festsitzenden Geister zu befreien und ins Jenseits zu schicken, damit diese hier endlich die Menschen in der physischen Welt in Ruhe lassen. „Na klar!“, antwortet der Gefährte etwas vorschnell. Meine Kinnlade ist noch nicht wieder oben, da fährt der Gefährte fort, er hätte auch schon die gesamte Wanderung über alle Hände voll zu tun gehabt. Mir erschließt sich so langsam sein Schweigen und der Grund für seine zeitversetzten und zusammenhanglosen Einwürfe. Vielleicht ist der zweite Teil des „Wegs des geringsten Widerstandes“ auch einfach zu viel für ihn oder ein Eintauchen in die Erinnerungswelt der letzten Reise im Jahr 2021 bedeutet eine emotionale Überforderung. Jedenfalls glänzt er durch weitere Statements, die alles und nichts zugleich bedeuten, aber inzwischen in mindestens drei Versen daher kommen, so dass sich zumindest eine Gedankenkette dahinter zeigt und eine dahinter liegende Absicht vermuten lässt:



Der Farn auf der Erde ist wie mein Haupthaar für mich
Nur das vom Farm noch mehr vorhanden ist
Wie ist das eigentlich für Dich?

Der falsche Pfifferling oder auch Hygrophoropsis Aurantiaca
gehört trotz seiner lamellenartigen Hutunterseite
zur Ordnung der Dickröhrlingsartica.

14:12 Uhr
Wir kommen an einem Gehöft vorbei, vor dem ein älterer Herr sitzt, der uns schon von weither den Berghang hinab hat kommen sehen. Als wir endlich auf seiner Höhe sind, springt er Freude strahlend auf uns zu, um den Schriftzug auf dem Schild zu lesen. Ein lautes Lachen ertönt und er ergänzt erfreut, das sei doch gerade heute das Spannende, das man in der Politik wie in der Gesellschaft kaum noch links von rechts unterscheiden könne. Links sei das neue Rechts und umgekehrt. Er erkenne so viele Ebenen in diesen fünf Worten, das müsse man erstmal schaffen. Als ich von der Absicht berichte, ganz Belgien zu durchqueren, um am Geburtstage von Arthur Rimbaud vor dessen Geburtshaus zu stehen, staunt er nicht schlecht über soviel Laufbereitschaft für diese wichtige Pointe, die für ihn eine perfekte Karikatur darstelle. Wir verabschieden uns, nicht ohne die deutschen Leser dieser Zeilen erneut darauf hinzuweisen, das in Belgien immer noch viel gelacht wird und das Lachen wie die Lebensfreude hier sogar gezeigt und nicht versteckt werden. Nichts wie in den belgischen Wilden Westen, der ist gar nicht so weit weg.

16:52 Uhr
Frauke meint, wie interessant es doch sei, den Fliegenpilz beim aus dem Moose heraus wachsen zu beobachten. Dieser recke und strecke sich, sei das vitale Rot erst zunächst kaum zu sehen, aus dem feuchten Waldboden empor, wachse ich die Höhe, damit das Weiß des Stengels irgendwann das pralle runde Rot, zunächst als Kugel dann als Schirm, freilege. Der Gefährte schaut mich fragend an und entgegnet ihr: „Das hört sich aber ein bisschen anzüglich an, wenn Du mich fragst“. Es beginnt eine interessante Debatte über die Erotik der Pilze, von der ja jeder halten könne, was man wolle. Es ergibt sich insgesamt ein uneindeutiges Bild über die Geschlechtlichkeit der Pilze und eine eindeutige Zuordnung in weibliche oder männliche geschlechtsorganische Erscheinungsformen will nicht gelingen. Manchen Pilze liessen eine männliche Zugehörigkeit erahnen, andere scheinen aufgrund ihrer Anordnung und Gruppierung eher dem Weiblichen zugehörig. Der Gefährte fragt altklug warum es im Pilzreich großartig anders sein solle als bei den Menschen, die Sexualität werde natürlich genauso überschätzt wie bei uns und am Ende ist dem Gefährten eines klar: „Auch Pilze sind nur Menschen wie Du und ich.“
17:21 Uhr
Wir erreichen das Endziel unserer heutigen Etappe: Clerhé. Als wir, müde vom Schild schleppen und von 18 Kilometern durch den später klammen Wald, Clerhé durchqueren, kommen uns 15 Kinder mit einer Ziege an der Leine entgegen. Sie fragen überbordend vor Energie, wer wir seien, was wir hier machen und was das Schild zu bedeuten habe. Hinterdrein kommen zwei Erwachsene. Einer der beiden betreut das Projekt „Paroles d’Enfants“, indem Kindern auf der ganzen Welt eine Stimme gegeben wird und hier in Clerhé sei der Hauptsitz auf einem alten Gehöft, auf dem Schulklassen und ganze Jahrgangsstufen eine Woche mit Tieren und in der beinah unberührten Natur der Wallonie verbringen können. Sie hätten gestern Abend noch über Unbeugsamkeit, Stärke, Aufrichtigkeit und Treue zu sich selbst gesprochen und heute trügen wir ein Schild mit dem Slogan durch die Straßen des kleinen Dorfes, das es auf den Punkt bringe. Das sei sehr interessant für die Kinder. Wir werden eingeladen zu bleiben und die Nacht auf dem Hof zu verbringen. Was für eine Überraschung. Der Eingentümer des Hofes überreicht uns eine DVD über „Les Paroles d’Enfants“ und meint, was er hier mache und als Grundidee verfolge entspreche genau dem, was auf unserem Schild stehe. Wir sind sehr gerührt von soviel Freude der Kinder, die sich hier auf dem Hof austoben, mit Eseln und Ziegen spielen und eine Traube voller Fragen um uns herum bilden. Wir haben Freunde im Geiste gefunden nach einem langen Tag im Auf und Ab des belgischen Waldes. Der Gefährte stellt unnachahmlich fest: „Den ganzen Tag keine Sau gesehen. Am Abend wirfst Du den Kindern fünf Sätze schlechtestes Französisch vor die Füße und die verstehen Dich auch noch. Wie geht das eigentlich?“ Ich antworte mit: „Das Herz spricht auch durch schlechtestes Französisch!“ Der Gefährte meint: „Jajaja. Hab ich mir schon gedacht. Blahblahblah:)“