Le Chemin de la moindre Résistance

Tag 8: Zickezacke


08:12 Uhr
Aufbruch von Clerhé nach Marche-en-Famenne, das bedeutet 23 Kilometer mit Schild, Charme und Melone, wie sich der Gefährte vor seiner Abreise in Kulturbeflissenheit übt und ausdrückt. „Wie gut, das ich da nicht mehr mit muss“, behauptet der Grandseigneur der Mammutwanderungen. Die Landschaft wird wieder abwechslungsreicher. Es geht auf und ab, seit wir das Hohe Venn mit Weitblick und Hochplateau verlassen haben. Nur die Fliegenpilze sind unsere ständigen Begleiter. Am Wegesrand stehen sie wie das Publikum beim Radrennen Bastogne-Lüttich. Ich bin nur langsamer, die Pilze aber auch. Die Tempi sind also unterschiedlich, das Publikum beim Radrennen steht am Rand, bewegt sein Haupt der Geschwindigkeit des Vorbeifahrenden entsprechend dem Radfahrer folgend von einer Seite zur Anderen. Der Pilz scheint sich dem Wanderer in langsamerer Geschwindigkeit ebenfalls gaaannzzz laaaannnngggggsssaaaammmmm anzupassen und sein Haupt mit zu drehen. Das Verhältnis der Geschwindigkeiten zwischen Pilz und Wanderer scheint dem zwischen Radrennfahrer und Publikum gleich, nur der Unterschied zwischen Wanderer und Radrennfahrer ist genauso groß wie der zwischen Pilz und Publikum. Ich hoffe, es ist irgendwie klar geworden, was ich sagen will. Mir zumindest.

10:32 Uhr
Der Versuch, Frauke für ihre Treue, Beharrlichkeit und Kraft zu loben und ihr dafür zu danken, mich in seltenen Phasen der Schwäche den Berg rauf zu tragen, wenn das Schild mal schlapp macht, schlägt fehl. „Los jetzt! Wir haben keine Zeit für so Fisematenten!“ hallt es in sprödem Siegerländer Charme durch die wundersame Wallonie. „Es reicht. Ich gehe keinen Schritt mehr weiter, ein Hubschrauber soll mich den nächsten Berg rauftragen“, versuche ich mich in kapriziösem Künstlergehabe der vergangenen Jahrhunderte. Das muss an meinem Outfit wie an der Verschränkung des Projektes mit der Vergangenheit liegen. Jedenfalls spricht etwas anderes aus mir, nicht ich. Ist es der Geist Rimbaud’s, oder Verlaine’s, oder Hugo’s? Frauke pariert meinen Anfall charmant lächelnd mit den Worten: „Dann verbinde Dich doch einfach mit dem Fliegenpilzmyzel, der bringt Dich schon nach Charleville zum großen französischen Dichterfürsten, wie heißt der noch gleich? Arthur?“
11:59 Uhr
Die Hälfte der Strecke liegt bereits hinter mir, ich staune über soviel Leichtigkeit des Seins und des Unseins, wenn man die Geisterwelt der gefallenen Soldaten mal ausblendet. Ich habe auffällig viele Träume, die von Schlachtfeldern, Schützengräben und Scharmützeln handeln. Ich wache morgens größtenteils übermüdet auf, um mir nach dem Frühstück das Kostüm überzustreifen, die Krawatte zu binden und den Mantel umzuhängen, nach dem Schild zu greifen, um am nächsten Denkmal zum Gedenken welcher Gefallenen auch immer vorbei zu flanieren und darüber nachzusinnen, was diese Region hier alles auszuhalten und zu verarbeiten hatte. Der Glaube an ein Land, eine Regierung, eine Religion oder alles zusammen führte hier ganze Landstriche in den gewaltsamen Tod. „Was machst Du da eigentlich in den Ardennen im Herbst 2022?“, wurde ich inzwischen mehrmals in den letzten Tagen, bei den zwar rar gesäten Telefonaten - ein paar Verbindungen will man ja auch über Zeiten, in denen man an Projekten intensiv arbeitet, halten - gefragt. Ich habe zumeist geantwortet, ich solle wohl dieses Jahr mit dem Straßenschild nach Westen wandern, um dem zivilen Ungehorsam über neue Formen ein Bild zu geben und ein paar innovative Impulse über die deutschen Grenzen hinaus zu setzen. Vielleicht gelänge es sogar, die nationalen Protestkulturen zwischen Gelbwesten und Montagsspaziergängen miteinander zu verbinden. Darüber hinaus gelänge womöglich eine Erheiterung gesamter Landstriche durch die „Wanderausstellung“ einer karikaturhaften Figur mit Straßenschild sowie eine Verschränkung von unserer Gegenwart mit dem 19ten Jahrhundert und der bildenden Kunst mit der Literatur. Zu der Frage, warum gerade jetzt diese Strecke durch die Ardennen mit einem Schild mit der Aufschrift „Weg des geringsten Widerstandes“ in landesüblicher Gestalt und Sprache „in Angriff genommen“ werde, wird kaum vorgedrungen. Ob sich das Blutvergießen der vergangenen Kriege, die hier wie nirgends sonst in erinnerungskulturelle Denkmäler überführt wurden und die Landstriche hier prägen, mit dem der heutigen Zeit verschränken ließe, wird umgangen. Wahrscheinlich werden Zusammenhänge nicht gesehen oder ausgeblendet, weil der damit verbundene Schmerz einfach zu groß ist. Ist die Verknüpfung der Vergangenheit mit der Gegenwart womöglich immer noch zu abwegig? Es scheint beinah, als sei die permanente Pflege der Vergangenheit gerade der über die Gegenwart ausgebreitete Mantel des Schweigens. Damit ist die Vergangenheit instrumentalisiert und deren Pflege verhindert das Öffnen der Augen zur unvoreingenommenen Betrachtung der Gegenwart. All das steckte im gestrigen Kommentar des älteren Herren, der uns lange Zeit beobachtete, wie das Schild den Berghang hinab und an seinem Hof vorbei getragen wurde. Hier scheint zumindest ein kritisches Bewusstsein vorhanden zu sein bezogen auf den Zweck der kulturellen Pflege der Vergangenheit. Überdeutlich spürt man den kritischen Geist der Menschen an den gegenwärtigen Ereignissen trotz der zahlreichen Kriegsmuseen und der omnipräsenten Denkmalpflege. Was ist das richtige Maß, mit der die Erinnerungskultur erhalten werden muss, damit die Sinne geschärft bleiben, um die Zeichen der gegenwärtigen Zeit zu erkennen und nicht im mahnenden Gesäusel der medialen Dampfplauderei untergehen zu lassen? Je mehr Aufmerksamkeit ich nach hinten in die Vergangenheit lenke, desto weniger Kapazitäten sind frei für den Blick nach vorne, um den nächsten Scheißhaufen der politischen Sauereien zu erkennen. Dasselbe gilt für die omnipräsente Stiefelleckerkunst, die man in den Museen der bildenden Künste serviert bekommt. Auch das ist vor allem eines: Ablenkung.
12:23 Uhr
Der nächste Versuch, Frauke für ihre Treue, Beharrlichkeit und Kraft zu loben und ihr dafür zu danken, mich in seltenen Phasen der Schwäche den Berg rauf zu tragen, wenn das Schild mal schlapp macht, schlägt wieder fehl. „Los jetzt! Wir haben keine Zeit für so Fisematenten!“ hallt es abermals in sprödem Siegerländer Charme durch die noch wundersamere Wallonie. „Es reicht. Ich gehe keinen Schritt mehr weiter, ein Hubschrauber soll mich den nächsten Berg rauftragen“, versuche ich mich erneut in kapriziösem Künstlergehabe der vergangenen Jahrhunderte. Das muss wieder an meinem Outfit wie an der Verschränkung des Projektes mit der Vergangenheit liegen. Jedenfalls spricht schon wieder etwas anderes aus mir, nicht ich. Ist es der Geist Rimbaud’s, oder Verlaine’s, oder Hugo’s? Frauke pariert meinen Anfall erneut charmant lächelnd mit den Worten: „Dann verbinde Dich doch einfach mit dem Fliegenpilzmyzel, der bringt Dich schon nach Charleville zum großen französischen Dichterfürsten, wie heißt der noch gleich? Arthur?“
13:57 Uhr
Zur Ablenkung von der Tragikkomik der Gegenwart und seinen Erscheinungsformen widmet sich Frauke erneut der Fliegenpilzmakrofotografie. Das helfe immer gegen äh, … den Gegenwartsschmerz. Um meiner persönlichen, offenbar immer frankophiler werdenden äußeren Erscheinungsform gerecht zu werden, hier einige Schlaumeiereien aus dem Reich der Sauereien des großen Pilzgeistes Johann Wolfgang von Goethe:

Oh wie werden doch meine Sporen möglichst weit in die Luft geschleudert,
Haben manche meiner Pilzarten diffizileste Mechanismen geäudert.
Mein Pilobolus etwa, der häufig gar und gor auf Kuhfladen wächst,
Hält in seinem Hut sonderbar spezielle Zellen beflächst.

Durch eine Druckschleuder werden sau in die Umgebung katapultiert,
über zehn Meter pro Sekunde und bis zu 2,5 Meter weit transportiert,
Ist in Windeseile den nächsten Fladen infiltriert,
Bis der reagiert, ist schon all’s infiziert.

Der Jochpilz in allen Böden der Erde mit und ohn’ besonderen Hut,
Finden sogar Männ- und Weiblein gut.
Die Geschlechtlichkeit bevorzugen diese
Wird gezwickelt und -zwackelt unter jeder Wiese.

Gut das wir Menschen dies’ Art Unzucht nicht sehen,
Sonst bräuchten wir uns nicht über die Sexualisierung der Gesellschaft so auf zu re’en.
Dies, oh Leut, sind die ältesten Lebewes’ auf d’Erde,
Wo Mann und Frau immer schon immer gewesen werde.

Plus und Minus ergibt ein’ Faden
Wenn sie sich verfehlen, entsteht nichts. Auch kein Schaden.
Der Fruchtkörper kann nämlich nur entstehen,
wenn sich männlich’ und weibliche Form mal sehen.

Gehen sie einander vorbei,
wär’s schad ums Begehren der Pilzerei.
So kann man sagen mit Fug und Recht,
Der Pilz hat erfunden das getrennte Geschlecht.



16:59 Uhr
Ein letzter Versuch, Frauke für ihre Treue, Beharrlichkeit und Kraft zu loben und ihr dafür zu danken, mich in seltenen Phasen der Schwäche den Berg rauf zu tragen, wenn das Schild mal schlapp macht, schlägt wie gewohnt fehl. „Los jetzt! Wir haben keine Zeit für so Fisematenten!“ hallt es schon wieder in sprödem Siegerländer Charme durch die wundersamste Wallonie. „Es reicht. Ich gehe keinen Schritt mehr weiter, ein Hubschrauber soll mich den nächsten Berg rauftragen“, versuche ich mich wie immer in kapriziösem Künstlergehabe der vergangenen Jahrhunderte. Das muss wie gewohnt an meinem Outfit wie an der Verschränkung des Projektes mit der Vergangenheit liegen. Jedenfalls spricht wie immer etwas anderes aus mir, nicht ich. Ist es der Geist Rimbaud’s, oder Verlaine’s, oder Hugo’s? Frauke pariert meinen Anfall wie üblich charmant lächelnd mit den Worten: „Dann verbinde Dich doch einfach mit dem Fliegenpilzmyzel, der bringt Dich schon nach Charleville zum großen französischen Dichterfürsten, wie heißt der noch gleich? Arthur?“