Le Chemin de la moindre Résistance

Tag 9: Die Reise zur großen Kuh und der Fön der Ardennen


08:12 Uhr
Heute geht es von Marche-en-Famenne, wo wir in einer Gîte Rural übernachtet haben, nach Rochefort. 17 Kilometer rauf und runter, es ist wärmer heute, um die 20 Grad. Ich habe mich trotzdem für das Tragen des Mantels entschieden. Das sollte ich mehrfach im Laufe des Tages bereuen, da es zu warm ist in meinem Herbstkostüm. Nur einmal gegen Mittag windet und weht ein feiner Landregen übers äh, … Land, zu dem Frauke meint, Schorse und Friedchen, die im Dortmunder Umland im hohen Alter einen Bauernhof betreiben, denen sie manchmal zur Hand geht, hätten gesagt, das sei der beste Regen für die Pflanzenwelt, da er überall hinkommt und von den Pflanzen mit allem, was sie haben, aufgenommen werden kann. Später meint sie, wir hätten typisches Fönwetter, ich vermisse das Ardennenglühen. Die inzwischen rote Färbung vieler Bäume sei das Alpenvorglühen, meint Frauke. Das kommt hoffentlich heute Abend beim Rotwein, habe ich hoffentlich endlich das letzte Wort…
10:27 Uhr
Wir sprechen gerade angeregt über landwirtschaftliche Perspektiven im Rahmen der inzwischen von immer mehr Menschen angestrebten Selbstversorgung, als wir an einer Wiese voller im Gras liegender Kühe vorbei kommen. Sie liegen so nah am Zaun, wir müssen auf Armlänge an ihnen vorbei. Als wir uns immer weiter nähern, erhebt sich erst die Leitkuh, die anderen machen es ihr, wie einstudiert, eine nach der anderen nach. Wir bleiben auf der Höhe der Kühe stehen, die Leitkuh stobt zunächst weg, macht aber in der ruckartigen Bewegung plötzlich halt, als hätte sie es sich anders überlegt. Sie nähert sich dann doch vorsichtig dem seltsamen Mann mit dem Schild und seiner Begleiterin. Die anderen Kühe tun es ihr gleich und rücken in kleinen Schritten behutsam immer näher an die beiden Wanderer heran. Weitere Kühe kommen hinzu und drängen aus der zweiten Reihe an den anderen vorbei nach vorn. Sie stehen so dicht gedrängt, wir können sie inzwischen alle anfassen. Um uns beide und den Kühen besteht ein ganz friedliches, harmonisches und stabiles Gemeinschaftsgefühl, das sich sonderbarerweise wie eine Kugel mit Kuppel anfühlt, als sich plötzlich „die große Kuh“ meldet. Ich solle doch mit der Gruppe noch nicht ganz ausgewachsener Kühen zu ihr, zur großen Kuh reisen. Ich könne die Kühe einfach in Gedanken ansprechen, sie werde schon dafür sorgen, das mich die Gruppe versteht. So lade ich die Kühe ein, mit zu kommen zum großen Kuhgeist, woraufhin es überall hinter den Kühen zu plätschern und platschen beginnt, irgendwo zeigt immer ein Kuhschwanz nach oben, unten landet der eben noch wieder gekäute Inhalt der Kuhmägen, als müssten sie sich noch schnell erleichtern vor der weiten Reise. Etwas überfordert mit meiner Aufgabe, ist aber alles ganz leicht. Angekommen bei der großen Kuh, fühle ich mich willkommen und geborgen und darf für eine Weile mit der Kuhherde verweilen. Dann werde ich mit Bildern und Informationen versorgt, die mich tiefste Freud und tiefstes Leid zugleich fühlen lassen. Ich darf in Gegenwart der Kühe erleben, was wir Menschen unseren Mitgeschöpfen, die offenbar Leid und Schmerz genauso wahrnehmen und fühlen, wie wir, angetan haben. Die Domestizierung geht über den Kälberraub in Ausbeutung über, für all das darf ich mich in diesem Moment verantwortlich fühlen. Trotz des Schmerzes erfüllt mich gleichzeitig Dankbarkeit für diese Erfahrung. So darf ich auf dieser so besonderen Reise stellvertretend für die Menschen bei der großen Kuh und den Kühen um Vergebung bitten für alle Erscheinungsformen von Gewalt und Ausbeutung dieser so sensiblen und weisen Tiere, die mit uns auf der Welt zu sein scheinen, damit wir wir Menschen irgendwann Mitgefühl entwickeln. Dafür scheinen sich die Tiere zu opfern, auch das bekomme ich hier so intensiv zu spüren, dass ich mich vor Rührung, genau wie die Tiere gegenüber, kaum bewegen kann. Dann darf ich mir eine Welt anschauen, wie diese auch sein könnte. Eine, in der Mensch und Tier wie selbstverständlich nebeneinander und miteinander ihren Platz haben und für einander sorgen, ohne Ausbeutung und so bekloppte Denkmodelle, in denen Begriffe wie Effizienz, Rendite und Gewinnmaximierung die Verhaltensweisen der Menschen prägen und jede Form von Gemeinschaft, Fürsorge und Kümmern im Namen dieser ökonomischem Gesetzmäßigkeiten einfach absterben lässt. Uns Menschen wird jetzt offenbar genau diese Lektion zu Teil. Wir erleben das Leid der Tiere am eigenen Leib, nur dann können die meisten von uns ihr Verhalten ändern. Diesen Prozess dürfen wir jetzt auf der Erde miterleben. Neben dieser nicht leicht zu verdauenden inwendigen Erfahrung, machen mir die Tiere das größte aller Geschenke, sie nehmen mich in ihre Gemeinschaft auf. In diesem größten Wechselbad der Gefühle gebadet, machen wir uns auf die Rückreise zur Erde. Mit laufen Tränen die Wangen herunter, zum Abschied wird laut gemuht …


15:38 Uhr
Als wir endlich Marloie erreichen, kommen wir an einer schönen Klosteranlage vorbei, die gerade offenbar restauriert wird. Einzig der Zugang zur Klosterkirche scheint geöffnet zu sein. Wir sind schon vorbei, als es mich zurück zum Eingang zieht. Der führt zu einer Kapelle, deren Portal tatsächlich nicht verschlossen ist. Drinnen singen Mönche in hellen Roben. Mich erhebt ihr gregorianischer Choralgesang in himmlische Höhen. 12 Mönche des Trappistenordens, 6 auf jeder Seite singen diese wundersam leichten Gesänge, das es den Zuhörer in himmlische Welten entschweben lässt, in denen ich heute mit den Kühen schon verweilen durfte. Wie wundervoll diese Wanderung mit so unterschiedlichen Erlebnissen doch ist. Ich lasse einen Brief an die Bruderschaft da, aus Dankbarkeit für diesen Moment und für diesen Tag. In Rochefort setzen wir uns vor ein Café, nebenan sitzt ein älterer Mann mit rotem Schal. Meine rote Krawatte fühlt sich zum roten Schal des Herrn am Nebentisch hingezogen, so kommt meine Krawatte mit dem roten Schal des Mannes ins Gespräch. Er ist Professor für Französisch und Geschichte und freut sich sichtlich über Informationen ein Projekt betreffend, das in dieser so schweren Zeit, Literatur mit bildender Kunst verschränke und die Menschen über Grenzen hinweg zusammenführe. Er empfiehlt, etliche Besuche von Höhlen mit Höhlenzeichnungen, wie den Besuch von Burgen und Schlössern um Rochefort. Das dürften wir uns keinesfalls entgehen lassen und wäre ein wertvoller Beitrag für Kunst und Kultur in einer Zeit, in der Raubbau an allem Menschlichen betrieben werde. Er gratuliert uns zu diesem besonderen Projekt.
17:03 Uhr
Wir finden eine Herberge für die Nacht, sind etliche Male durchgeschwitzt aufgrund der heute so milden Temperaturen und wurden einmal komplett nass geregnet. Frauke findet sogar den Fön der Ardennen, Zeit, endlich mal die Haare zu waschen. Dann widmen wir uns dem Ardennenglühen im Rotweinglas. Was für ein Geschenk ein Tag sein kann, an dem man morgens einfach aufsteht und losläuft, ohne zu wissen, was sich ereignen und wem man begegnen werde. Bei all dem Unsteten ist es mehr als gut, in verlässlicher Begleitung zu sein. Aufgrund der manchmal verhaltenen, manchmal etwas unverhohlenen Kritik an der Beschreibung von „Fraukes sprödem Siegerländer Charme“ im gestrigen Bericht hier ein paar Verse, die beschreiben, das es wirklich für jedes Projekt von unschätzbarem Wert ist, wenn mindestens Frauke oder ihr Siegerländer Charme dabei sind, am besten beides. Niemand ist verlässlicher, hilfsbereiter und treuer als dieses                                                          wunderbare Wesen aus dem Siegerland, mit dem ich die Ehre habe, über Berg und Tal der Ardennen zu laufen, als gäbe es weder Sorgen, noch kein morgen.












Frauke,

Dein Siegerland geprägt G’müt,
Ist einzig wahr wie belgisch Friet.
Mit Treue, Freundschaft, Hingab un Kraft,
Ham wir’s schon bis Rochefort geschafft.

Durch Dick und Dünn durchs Tal d’Ardenne,
Lässt sich wahre G’meinschaft wohl erkenne.
Frauke oh Frauke mei,
Wie schön ist es, dei Freund zu sei.

Lass uns weiter ziehn durch belsch Ardennei
Was ist schöner als wir zwei.
Leider bist ja schon vergehm,
Dieser Punkt ist a bisserl una’g’nehm.

An den Hühnen Achim,
Der hat Glück, das sach ihm:)
Aber sei’s drum, g’nau wie ich,
So ein Pich.